Spielerisch denken: Gamifizierung für Verlage

Was braucht man zur Monetarisierung digitaler Produkte? Gewohnheiten. Das Produkt muss zum festen Bestandteil des Alltags werden. Die gedruckte Zeitung beim Frühstück war genau das bzw. ist es für bestimmte Altersgruppen auch weiterhin. Aber wie können Verlage im Sinne der Zukunftsfähigkeit digitale Gewohnheiten bei ihren Nutzerinnen und Nutzern herstellen und vor allem auch eine jüngere Generation aktivieren? Die Methoden der Gamifizierung bieten hier vielfältige Ansätze. Ein Report des Londoner JournalismAI Collab gibt praktische Denkanstöße.

Gamifizierung zur Aktivierung von Menschen

Bei der Gamifizierung werden Spielmechanismen in Umgebungen eingesetzt, die spiel-fremd sind, um Menschen zu aktivieren, das Kundenengagement zu steigern und letztendlich Geschäftsergebnisse zu beeinflussen. Genutzt werden die Techniken der Gamifizierung an vielen Orten, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Der Fortschrittsbalken beim Anlegen eines LinkedIn-Profils, der durch Prozentanzeige zur Vervollständigung motivieren soll? Basiert auf den Prinzipien der Gamifizierung, bei denen es um Dinge wie Ziele, Belohnungen, Fortschritt, Risiko und Wettbewerb geht.

Fitness- oder Sprachlern-Apps sind Beispiele für die erfolgreiche Nutzung von Gamifizierung. Sie arbeiten mit Abzeichen (Badges), Punktsystemen, Bestenlisten (Leaderboads) und liefern Vorschläge, wie man sich verbessern kann. Sehr effektiv sind Streaks als ein Risikoelement. Mit diesen Erfolgsreihen wird die Wiederholung von Tätigkeiten belohnt und ihre Motivation besteht darin, dass man diese Erfolgsreihe als gefühltes Erfolgserlebnis nicht unterbrechen möchte.

Britischer Medien-Thinktank sieht Gamifizierungspotenzial für Newsorganisationen 

Funktionieren solche Gamifizierungsmechanismen im digitalen Umfeld auch für Zeitungen? Die JournalismAI Collab, eine Initiative des Medien-Thinktanks Polis an der London School of Economics, meint Ja. In einem Report zum Thema Nutzung von KI zur besseren Leseraktivierung- und -bindung wird u. a. das Potenzial von Gamifizierung hervorgehoben, mehr Engagement zu erzeugen und die Entdeckung von Inhalten zu fördern.

Leser mit ihren selbst generierten Daten motivieren

Wie können Verlage also „spielerisch“ denken? Der Report gibt praktische Denkanstöße: Als einfachster Weg, Gamifizierungs-Elemente einzuführen, wird der erwähnte Fortschrittsbalken vorgeschlagen, um anzeigen, wie viele der verfügbaren Artikel zu einem bestimmten Thema von dem jeweiligen Nutzer gelesen wurden. Weitere denkbare Elemente sind z. B. eine Anzeige, die darüber informiert, wie viele Beiträge der durchschnittliche Nutzer dazu gelesen hat, und ein Login-Streak, der zurückgesetzt wird, wenn man sich eine Weile nicht einloggt.

Denkbar sind zudem eine Auszeichnung als „Experte“, wenn eine bestimmte Anzahl von Artikel zu einem Thema gelesen wurde – in Verbindung mit dem Risikofaktor, diesen zu verlieren, wenn man nicht auf dem Laufenden bleibt, und der Anregung, Inhalte zu anderen Themen zu entdecken. Nutzer werden in ihrem Profil also mit den selbst generierten Daten konfrontiert und motiviert. Das funktioniert sehr gut bei den bereits erwähnten Fitness- und Lern-Apps und auch in der Medienbranche können Gamifizierungstechniken sich positiv auf Loyalität und Engagement auswirken:

Die von der Financial Times ins Leben gerufene Start-Up-Newsplattform Sifted.eu testete ein von einem britisch-israelischen Start-up entwickeltes „Knowledge Tracker“-Widget. Dieses berechnet mithilfe eines Algorithmus den Wissensstand von Nutzern zu einem bestimmten Thema und regt an, diesen Wert durch das Lesen weiterer Artikel zu verbessern. Nutzer, die diesen Widget angezeigt bekamen, lasen im Durchschnitt 55 % mehr Artikel als die Kontrollgruppe ohne und die aktivsten verdreifachten ihre durchschnittliche wöchentliche Lektüre.

Gamifizierung als Teil des Toolkits zukunftsfähiger Verlage

Jetzt mag das Publikum einer Plattform für das europäische Start-up-Ökosystem empfänglicher für solche „Spielchen“ sein als „normale“ Zeitungsleser. Es lohnt sich aber dennoch, unvoreingenommen über Gamifizierungsmechanismen nachzudenken. Die Technik wird inzwischen in allen Bereichen und Branchen von Personalwesen bis Bank- und Versicherungswirtschaft ernst genommen. Warum sollten also nicht auch digitale Newsorganisationen spielerischer werden, um ihr Publikum mehr einzubinden und anzuregen, sich mit Inhalten auseinanderzusetzen? Vor allem, da es inzwischen ganze Generationen gibt, die mit den Prinzipien der Gamifizierung aufgewachsen sind und für die Leaderboards oder virtuelle Belohnungen für Verhaltensweise selbstverständlich sind.

Daily Telegraph: Gamifizierung zur Erweiterung der Leserschaft

Der britische Tageszeitung Daily Telegraph nutzte beispielweise Aktien-Gamifizierung, um seine Finanzmarktberichterstattung der unterrepräsentierten Lesergruppe der Millennials schmackhaft zu machen. Marktanalysen der Zeitung hatten ergeben, dass an Finanz- und Investmentthemen interessierte Millennials die Medienmarke zwar kennen, die Finanzseiten des Telegraph aber nicht nutzen. Um dies zu ändern, wurde eine spezielle Gamifizierungs-Anwendung („Fantasy Funds“) eingesetzt, mit der Nutzer virtuell zu Aktienanlegern werden und sich mit anderen in einem Wettbewerb messen können.

Das Modul wurde seit Mitte 2020 in mehreren Runden auf der Telegraph-Website integriert und mit den redaktionellen Finanzmarktinhalten verknüpft, um Nutzern beim Management ihrer fiktiven Aktienfonds den Wert der Berichterstattung zu verdeutlichen. Die erste „Fantasy Funds“-Runde des Telegraph hatte mehr als 14.000 Teilnehmer, zu deren Anreiz als Teil der Strategie Geldpreise ausgeschrieben wurden. Eine solche Incentivierung kann übrigens – je nach Medium und Kontext – unterschiedliche Formen haben. Auch Voucher oder andere „Goodies“ sind denkbar. Konkrete Zahlen, wie viele der Teilnehmer, die Nicht-Abonnenten sind, der Telegraph konvertieren konnte, gibt es zwar keine. Die Tatsache, dass das Gamifizierungs-Tool immer wieder zum Einsatz kommt, lässt allerdings vermuten: Das Experiment bringt Ergebnisse.

Daily Mail: Buchstabenspiele mit Gamifizierungs-Elementen

Eine ganz anderes Beispiel für Gamifizierung bietet die Daily Mail. Hier wurden die in britischen Zeitungen sehr beliebten „Puzzles“ (Worträtsel) in die „Daily Mail+“ App (E-Paper mit Live-Newsfeed) integriert und mit Gamifizierungs-Elementen wie Ranglisten angereichert. Nutzer sehen, wie viel Zeit sie benötigen, um ein Rätsel zu lösen und wie sie im Vergleich zu anderen dastehen. Der Wettbewerbsgedanke und die Schaffung eines speziellen Rätsel-Ökosystems in der Daily-Mail-App scheint zu funktionieren: Die Hälfte der Abonnenten löst täglich im Durchschnitt 6,5 Worträtsel und verbringt damit durchschnittlich 30 Minuten.

Die verschiedenen Anwendungen zeigen, dass Gamifizierung ganz unterschiedlich gedacht werden kann und vor allem immer personalisiert für jedes Medium betrachtet werden muss. Und um nochmal zum Report der JournalismAI Collab zurückzukommen: Die dort skizzierte Idee einer Gamifizierungs-Plattform für Newsorganisationen generiert natürlich auch Verhaltensdaten, die wertvolles Lernmaterial für KI-Anwendungen liefern, um bessere und personalisiertere Nutzererlebnisse zu ermöglichen – und damit auch die Zeitung der Zukunft zur Gewohnheit wird, ist das unerlässlich.